Der erste Besuch in Kairo nach 30 Jahren war natürlich immer wieder mit der Frage verbunden, wie sich die Stadt in den letzten Jahren verändert habe. Die kurze Antwort lautet: Im Vergleich zu damals stößt man heute auf Kairo hoch zwei. Die lange Antwort braucht etwas mehr Platz:
Die Stadt ist ein Trommelfeuer für die Sinne, das schon mit dem Verlassen des Hotels beginnt, wenn Mustafa, der Schuhputzer, der das Café gegenüber als seinen Standort gewählt hat, auf meine Schuhe weist, obwohl er noch an den Slippern wienert, die ihm andere Gäste überlassen haben, während sie eine Pause einlegen bei einer Shisha und einem Glas Tee.
Mindestens alle zwei Tage signalisiert Mustafa, nun sei es aber wirklich kritisch und der Blick auf die eigentlich schwarzen Schuhe, die überzogen sind von einer Staubschicht in grau, braun und ocker, gibt ihm Recht. Wenn man sich dann in einem der roten Plastikstapelstühle nieder lässt, rollt er eine kleine Matte aus, auf die man die bestrumpften Füße stellen soll, während er mit dem verstaubten Paar zu seinem Schuhputzkasten verschwindet. Der Kellner nimmt nebenher die Bestellung auf, scheucht eine Katze beiseite, stellt vor dem Nachbarn eine Wasserpfeife ab und schon wabern die aromatisierten, süßlichen Tabakschwaden. Dann knattert ein Motorroller vorbei, umkurvt eine alte, in schwarz gehüllte Frau, die mit bittendem Blick und klagender Stimme den Gästen Packungen von Papiertaschentüchern entgegenstreckt, und hinterlässt Fahnen des Zweitaktgemischs, gegen den die Shisha-Raucher nicht ankommen.
Auf der parallel verlaufenden Hauptstraße (Straße des 26. Juli), ebbt der Verkehr etwas ab, das Hupen lässt nach und erstaunt wandert der Blick in die Bäume vor dem Hotel, weil das Gezeter eines offenbar großen Schwarms Vögel hörbar wird. In diesen Momenten klappern auch die Dominosteine auf den Blechtischen im Lokal und das gemächliche Blubbern der Wasserpfeifen lässt sich auch von einem krächzenden Transistorradio im Café nebenan nicht in einen Rhythmus zwingen.
Der Kellner erscheint mit dem Tee, gnädigerweise nicht mit dem für Ausländer anscheinend obligatorischen Lipton-Beutel und serviert auch gleich ein Glas Wasser, ein Schälchen Zucker und ein Glas mit frischer Minze. Aus der Bäckerei um die Ecke kommt ein Brotbote auf dem Fahrrad daher, gekonnt balanciert er ein Gitter von etwa einem mal anderthalb Metern mit mehreren Lagen Fladenbrot auf dem Kopf und ruft unwillkürlich die Vorstellung eines Fotos hervor. Unterschrift: "Jetzt niesen."
Der Schatten des Hauses bewahrt vor der stechenden Sonne und ein sich hin und wieder erhebender Luftzug lässt die über dreißig Grad, auf die das Thermometer jetzt im Oktober immer noch klettert, erträglich erscheinen. Gleichzeitig fächelt der Wind das Widerstreben an, sich wieder ins Gewühl zu stürzen und der prallen Sonne auszusetzen. Doch da kommt schon Mustafa zurück, in der Hand ein vor Glanz kaum wieder zu erkennendes Paar und reicht mir auch einen bemerkenswert stabilen (gusseisernen?) Schuhanzieher. Wenn ich es richtig beobachtet habe, bekommt er für ein paar Schuhe ein Pfund (12,5 Cent), und er schafft zwei Paar in zehn Minuten. Da er täglich schätzungsweise zwölf Stunden arbeitet (zumindest habe ich ihn morgens und abends vor dem Hotel gesehen), aber nicht immer Kundschaft hat, dürfte sein Verdienst 144 Pfund (18 Euro) am Tag nicht übersteigen.
Auf der Gegenseite der Hauptstraße lockt der Schatten, also gilt es, sich durch den fließenden Verkehr zu schlängeln - endlich macht es wieder Spaß, die Straße zu überqueren. Wohlerzogene Nordeuropäer würden wahrscheinlich nervös werden und nach einer Ampel Ausschau halten, aber die Kairoer Straßen sind für Fußgänger ähnlich sicher wie die in Süditalien - die Fahrer rechnen mit dem Unvorhergesehenen.
Kairo ist eigentlich nicht eine Stadt, sondern mehrere Städte. Hier am Rand der Innenstadt, wo die koloniale Pracht einer nördlich und östlich des Tahrir-Platzes nach französischem Muster angelegten Kapitale friedlich vor sich hin welkt, fließt der Verkehr - manchmal, meistens stockt er - Schaufenster reiht sich an Schaufenster und man könnte fast an der Auslage bestimmen, um welche Straße es sich handelt: Kleidung in der 26. Juli, Schuhe in der Talaat Harb. Nur zwei Kilometer weiter jenseits des Opernplatzes nach Osten, gerät man abseits der Stichstraßen in das verwinkelte Gassengewirr der islamischen Altstadt. Für ein Auto ist dort kaum Platz und an die Stelle von Glasfronten und Leuchtreklamen treten kleine Läden und Werkstätten, die ihre Türen zur Straße hin öffnen, allenfalls ein bemaltes Schild darüber hängen und womöglich einen Tresen in die Gasse stellen. Das dritte Kairo, Alt-Kairo - das koptische Viertel, liegt außerhalb der unter den Fatimiden im Mittelalter errichteten Stadtmauer weiter im Süden (heutige Metro-Station Mar Girgis). Die Moderne hat die verschiedenen Stadtteile mittlerweile eingefasst und in den letzten dreißig Jahren sind entlang des Nils eine Reihe von Hochhäusern, vor allem Hotels und Banken, entstanden. Die Stadt bordet in die Wüste über und ein Ende des Wachstums ist nicht abzusehen. Über 16 Millionen Menschen sollen in der Metropolregion Kairo derzeit wohnen.
Erfassen lässt sich die Zahl nicht, allenfalls erahnen - an der Dunstglocke über der Stadt, am Verkehr und an den überfüllten Bürgersteigen, die ein Ausweichen auf die Straße nahelegen. Vielleicht hängt damit auch zusammen, dass es immer etwas zu sehen, zu hören, zu riechen gibt: Das Paar halb erblindeter alter Leute, die vor mir auf die Rolltreppe zusteuern, wo sie zurückschreckt und er sie mit einer Geste des hab-dich-nicht-so mit sich zieht; den Straßenhändler, der mit vollkommenem musikalischen Desinteresse auf einem Glockenspiel hämmert, um die Kundschaft anzulocken; den von einer Menge umringten Garküchenstand, der Kuschari serviert (eine Mischung aus Reis, Linsen, Nudeln und Kichererbsen).
Im Straßenbild fällt im Gegensatz zu früher auf, dass Frauen wesentlich häufiger Kopftuch und Schleier tragen. Fielen früher nur saudische Touristen durch den Niqab auf, den Vollschleier, der nur einen Sehschlitz offen lässt, so tragen ihn heute auch Ägypterinnen. Das Kopftuch scheint mittlerweile fast zum guten Ton zu gehören, wobei die Verbreitung von Schleier und Kopftuch stark vom Stadtteil abhängt, in der Altstadt sind sie öfter zu sehen, als in den reicheren Stadtteilen Zamalek, Dokki oder Mohandessin. Doch auf die Kopftuchfrage gab es keine eindeutige Antwort: Manche Frauen bedeckten schon immer ihre Haare, manche folgen dem Verlangen des Ehemannes, und andere haben das Tuch abgelegt, seit der Moslembruder Mursi zum Präsidenten gewählt wurde. Die Jüngeren machen daraus eine Mode, der sie eine praktische Seite abgewinnen, weil sie damit das Telefon ans Ohr klemmen können. Und oft genug steht bei den Jungen die Züchtigkeit des Tuchs im frappanten Gegensatz zur körperbetonten Kleidung. Überhaupt scheinen zumindest die Jüngeren mehr Freiräume zu haben als früher, sie fahren Auto, sie gehen mit ihrem Liebsten spazieren und ich kann mich nicht erinnern, früher so häufig aus kholschwarz umrandeten Augen angerätselt worden zu sein. Insgesamt erschiene die westliche Obsession mit dem Stoff, der ein Symbol der Religion oder auch der Unterdrückung sein soll, fast belustigend hilflos, klänge in der Einschätzung nicht auch die westliche Einstellung mit, zwar über Frauen in islamischen Ländern zu reden, aber nicht mit ihnen. Dabei wäre eine weniger auf seltsamen Vorurteilen beruhende Haltung der westlichen Welt für die Frauen hilfreicher, gerade wenn, wie zuletzt, der Vorschlag kursiert, in der ägyptischen Verfassung die Rechte der Frauen unter den Vorbehalt der Konformität mit der Sharia zu stellen.
Da sich beim Spaziergang der Staub und die Abgase auf der trockenen Zunge bemerkbar machen, ist immer eine Wasserflasche dabei, doch dem Schweißfilm auf der Haut kann man nur durch Abkühlung begegnen, und es sind die großen Moscheen, die unerwartet Linderung verschaffen. Die Schuhe bleiben am Eingang zurück (sie können gegen ein Bakschisch wieder ausgelöst werden, wenn man den richtigen Eingang wiederfindet) und wohltuender Dämmer umfängt einen anstelle des gleißenden Lichts, von der Decke hängen Ventilatoren, die für einen gleichmäßigen Lufstrom sorgen, der Trubel bleibt vor der Tür und die Ruhe wird noch unterstrichen durch die Vielen, die sich meist neben einer Säule auf dem Teppich zum Schlafen ausgestreckt haben. Sie lassen sich weder durch den Staubsauger stören, der im Dauereinsatz zu sein scheint, noch durch die Diskussion, die ein alter, dürrer, weißhaariger Mann, der eher Lupen als Brillengläser trägt, mit einem Besucher führt, während er, angelehnt an eine Säule, in einem zerfledderten Buch blättert. Das ungezungene Nebeneinander von Unterhaltungen, Alltagsbedürfnissen und Kontemplation sorgt nicht nur für eine ansprechende Stimmung, es macht die Moscheen, anders als die auf eine weihevolle Atmosphäre bedachten christlichen Kirchen, auch weniger zu einem Haus Gottes sondern mehr zu einem Treffpunkt der Gläubigen.
Um die Ecke der Moschee verebben die Ausläufer des Basars, den uferlosen Auslagen von Nippes zufolge, der touristische Teil: Pyramiden aus Glas, aus Metall, mit bunten Steinchen, Papyrii mit verwirrend proportionierten Zeichnungen, Aschenbecher mit und ohne Ankh, Figuren, die halb Uschebti, halb Bücherstütze zu sein scheinen, eben noch erkennbare Götterfiguren - Thot, Anubis, Hathor - die Motive haben sich nicht geändert, aber das Material scheint vielfältiger zu sein, die Machart dagegen gelitten zu haben. Ein Handwerker, der zur Zeit der Pharaonen derartig missratene Arbeiten produziert hätte, wäre wahrscheinlich zur Zwangsarbeit im Steinbruch verurteilt worden.
Das weckt nur die Sehnsucht nach einem kühlen Bier in einem kühlen Raum.
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