Er trägt einen das Kinn betonenden Vollbart, das schwarze Haar ist kurz geschnitten, sein dunkles Hemd hängt über der hellen Hose. Er schiebt die Kinderkarre vor sich her, in der sich das Söhnchen bekleidet mit T-Shirt, kurzer Jeans und Turnschuhen räkelt. Seine Frau hält Schritt; vollständig in schwarz gehüllt schauen nur ihre Augen durch den schmalen Schlitz zwischen Kopftuch und Schleier. Ihr einziger sichtbarer Schmuck besteht in den glitzernden Pailletten am Saum ihres Kopftuchs. Ein kleines Detail am Rande, die Kamera, die er einsatzbereit in der Rechten hält, gibt Auskunft, zu welcher Spezies die Familie gehört – sie sind Touristen; und ihr Ziel ist der Sultanspalast Topkapı.
Jeden Sommer suchen sich die Europäer gegenseitig heim, Briten ziehen nach Spanien, Italiener fahren nach Irland, Deutsche wandern nach Polen, und in das entstehende Sprachenwirrwarr mischen sich an den Stätten, die zum touristischen Kanon gehören, noch amerikanische Dehnungen und fernöstliche Silben. In Istanbul sprechen die Touristen zusätzlich zum europäischen Standard auch arabische Dialekte, weil sie aus dem Maghreb oder von der Arabischen Halbinsel stammen, und in der Schlange für die Kasse zum Sultanspalast redet der Tourist Urdu wie zu Hause in Islamabad und der Wartende hinter ihm ruft seine Kinder auf türkisch zur Ordnung.
Die Braunen, die Weißen, die Gelben, die Schwarzen bilden einen nicht versiegenden Strom von Touristen, der sich durch den ursprünglichen Kern der Stadt wälzt. Vom Topkapı Sarayı flutet die Menge die Hagia Sophia, ergießt sich in die Yerebatan-Zisterne und schwappt in die Blaue Moschee. Und immer wiederholt sich das eine Bild: Dem Codex Turistica gehorchend, spaziert der Tourist hinein, reckt den Hals um einen Blick auf das Objekt zu erhaschen, zückt den Reiseführer und vergewissert sich. Dann neigt sich der Kopf zur Begleitung, die Hände fummeln bereits an der Kamera und nach kurzem Beratschlagen folgt der unvermeidliche Schluss: »Stell dich da mal hin.«, und mit einem metallischen Schaben öffnet und schließt sich die Blende.
Vielleicht waren es die Japaner, die zuerst die Frage an den Nebenmann gestellt haben, ob der nicht das Paar gemeinsam oder die gesamte Gruppe vor der Attraktion ablichten könne. In touristischer Solidarität knipst dann der ältere polnische Herr mit Käppi die jungen Leute aus Korea, und nach einem kurzen Blick auf den Bildschirm der Kamera heimst der Herr dann ein Lob in klassischem Touristen-Pidgin ein: »Thank you! Good photo!«, und der Daumen geht nach oben.
Radebrechen die Touristen untereinander vorzugsweise auf Englisch erweisen sich die Ladenbesitzer auf dem Großen Basar zumindest bei den Begrüßungsfloskeln als polyglott: »Merhaba, Guten Tag, Buenos Dias, Hej, Sallam, Konichiwa«, hallt es durch die Gewölbe. In den meisten Fällen ordnet der professionelle Blick des Händlers mit erstaunlicher Treffsicherheit dem Touristen die passende Sprache zu. Das Vokabular reicht dann aus, um die bunten Ampeln oder die Schmuckkästchen anzupreisen und das Verkaufsgespräch in Gang zu bringen. Zwar gehört in anderen Ländern der Hinweis »Man spricht Deutsh« zum zuvorkommenden Geschäftsgebaren, doch in Istanbul ist von Touristen vergleichsweise wenig Deutsch zu hören, und die ausgewiesene Sprachkompetenz lautet eher: »Hablamos español.«
Die verschiedenen Sortimente in den einzelnen Quartieren des Großen Basars stoßen bei den Touristen auf ein unterschiedliches Echo. Während die Lederhändler gelangweilt auf das Eintreffen ihrer vorzugsweise russischen Kundschaft warten, können die Wasserpfeifenhöker sich über das Interesse junger Deutscher freuen. Und der Kleiderhändler wundert sich über den Absatz, den seine Pluderhosen finden, denn wie soll er wissen, dass sie unter pubertierenden Spanierinnen dieses Jahr groß in Mode sind.
Nach der künstlichen Welt, die sich der Tourismus auf dem Gebiet des ehemaligen Byzanz zwischen osmanischem Palast und orientalischem Basar geschaffen hat, ausgeschmückt mit Cafes im »Oriental Style« und Ladenzeilen, die »Original Turkish Flavour« anpreisen, begegnet der Tourist zum ersten Mal in der Blauen Moschee wieder dem normalen Leben. Denn dort trifft er, der der Anziehungskraft der Attraktionen gehorcht, auf die Gläubigen, die dem Gebetsruf des Muezzins folgen. Vor Ort weisen Tafeln noch einmal darauf hin, die Moschee bitte nicht in Schuhen zu betreten, und schon kurz vor dem Einlass bestätigt die Nase, dass der Tourist dieser Aufforderung Folge leistet. Denn er orientiert sich nicht an den Gläubigen, die die Waschgelegenheiten an der Außenseite des Hofes nutzen und sich reinigen, wie das Ritual des Gebets es vorsieht. Der Tourist ist ein Wanderer und er hat weite Strecken in geschlossenem Schuhwerk zurückgelegt. Die Gläubigen nehmen die Belästigung mit Gleichmut und beten trotzdem, abgewandt von der wabernden Menge der Touristen, mit dem Gesicht nach Mekka.
Mit dem Gang über die Galatabrücke verkümmert der Touristenstrom jenseits des Goldenen Horns zu einem Rinnsal. Der Tourist schlendert noch die aus der Mode gekommene Einkaufsstraße İstiklal hinauf, geht dem alten Straßenbahnwaggon aus dem Weg, der hier im Bummeltempo an Boutiquen und Buchläden vorbei zockelt und einigen Jungs als Spielplatz dient, weil sie während der Fahrt auf- und abspringen können. Und am Taksim-Platz, der noch 1950 als Istanbul 500.000 Einwohner hatte, zum Stadtrand gehörte, endet der Stadtplan des Touristen, dahinter liegt das vom Fremdenverkehrsbüro unerschlossene Gebiet einer ausufernden Stadt, in der über zehn Millionen Menschen wohnen.
Den Übergang zur modernen Metropole markiert ein Hochhaus mit dem die Skyline der Neustadt einsetzt. Die Jugendstil-Häuser mit ihren bröselnden Rosetten, die im musealen Teil der Stadt noch zu sehen sind, weichen Glaskästen mit sieben oder acht Stockwerken, wobei an einigen Stellen die alten Fassaden einfach integriert wurden – bis zum vierten Stock reicht dann das 19. Jahrhundert inklusive Giebel und darüber hinaus wächst die Moderne aus Metall und Glas. Die touristische Freizeituniform aus T-Shirt, Shorts und Sportschuhen ist hier aus dem Straßenbild genauso verschwunden wie Kopftuch und Schleier. Die Geschäftsfrau telefoniert, während sie, den stockenden Verkehr ausnutzend, hastig die Straße überquert. Gutgelaunt versucht der Lieferant mit seiner vollbeladenen Sackkarre ein paar distinguierte Damen aufzuscheuchen, damit er seine Wasserkanister abliefern kann, und der Geschäftsmann eilt geschniegelt und gestriegelt vorbei. Flaneure locken die Cafes wie ihre Pendants in Lissabon oder Madrid mit Eleganz in Glas, Holz und Marmor. Der Unterschied zeigt sich auf den Tabletts der Kellner, die Tässchen mit Mokka, Gläser mit Tee und die türkischen Variationen aus Pistazien und in Honig getränktem Blätterteig servieren.
Der Rückweg von den glänzenden Fassaden der Einkaufszentren in die Zone der Touristen führt am Galata-Turm vorbei. Von dem ließ schon Karl May einen Schurken stürzen, und drum herum erging sich der Phantasiereisende in Spekulationen über den Fatalismus der Muselmanen. Den vorbei ziehenden Trupp italienischer Touristen interessiert das Bauwerk ihrer Landsleute nur am Rande. Die meisten gönnen dem Turm, der noch aus der Zeit stammt, als Genua und Venedig um Macht und Einfluss in Konstantinopel stritten, nur einen flüchtigen Blick. Auch sie zieht es zurück in das touristische Reservat, hinter dem Gewimmel des Verkehrsknotenpunkts Eminönü, mit seinem Busbahnhof, der Straßenbahnhaltestelle und dem Anleger für die Fähren in den asiatischen Teil der Stadt jenseits des Bosporus.
Mit dem Eintauchen in den Ägyptischen Basar hat der Tourist sein Revier wieder erreicht, wo die Gewürzstände auf ihn abgestimmte Portionen bereit halten, wo das aufgetürmte Zuckerwerk und die Nüsse in Bottichen sich in den Blick drängen, wo ihm die Parfumeure eine »special offer« ins Ohr wispern und einen Markennamen auf einem Flakon präsentieren, oder den schwer lastenden Duft eines Massage-Öls mit dem Verweis auf »Hamam«, das türkische Bad, aus der Flasche lassen. Und in den Straßen dahinter wirft ein Schuhputzer sein Netz nach ihm aus, indem er wie zufällig die Bürste in seinen Weg fallen lässt. Höflich hebt der Tourist sie auf, macht sich bemerkbar und schon hat sich der »friend«, wie ihn der Schuhputzer ab sofort nennt, eines neuen Verkaufsgesprächs zu erwehren.
Schließlich findet der Tourist dann doch die ersehnte Ruhe in einem Cafe, das mit seinem rustikalen Schick von Wandteppichen und Tischläufern den Vorstellungen von türkischer Lebensart entspricht. Dort lümmelt er auf einem Sitzkissen, saugt an der Wasserpfeife und überlegt in einer Wolke süßlichen Geruchs, die von dem aromatisierten Tabak aufsteigt, ob er zum Abendessen wieder Kebab wählen wird, oder ob er der Empfehlung des amerikanischen Tischnachbarn von gestern folgen und die türkischen Ravioli, Mantı, bestellen sollte.
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