Burkina Faso: Die zweite Revolution

Es tut sich etwas im abgeschriebenen Teil der Welt. Während europäischen Medien zu Burkina Faso wenig mehr einfällt, als von Willkürpolitik, militärischen Übergriffen und einem Staat im Griff des islamistischen Terrorismus zu berichten, erfindet sich das Land gerade neu. Die Veränderungen zeigen an, wie die neokoloniale Ordnung nach französischem Muster in den frankophonen Ländern West- und Zentralfrikas gerade schweren Schaden nimmt, so weit sie nicht völlig zusammenbricht.

Die äußerlichen Unterschiede gegenüber dem letzten Besuch vor vier Jahren machen sich in der Hauptstadt Ouagadougou vor allem im Stadtbild bemerkbar: Es wird gebaut, als sei ein Wettbewerb im Gange. Die Binnenflüchtlinge, die an den Kreuzungen während der Rotphase die Autofahrer um Geld angingen, sind weitgehend verschwunden. Das erste Kaufhaus bietet Waren feil und zum Jahresauftakt eröffnete mit Itaoua der erste Händler für elektrische Autos seinen Showroom. Das Besondere: Die Modelle werden in Ouagadougou montiert. Mit seiner Schätzung des ökonomischen Wachstums auf 5,5% im Jahr 2024 wirkt der Internationale Währungsfond bei dieser Entwicklung recht zurückhaltend.

Auf der Nationalstraße 1 von Ouagadougou nach Bobo-Dioulasso, der zweitgrößten Stadt des Landes, hat der Verkehr zugenommen. Es sind weniger Mercedes-Busse der T2-Baureihe unterwegs, dafür brettern vemehrt Reisebusse chinesischer Hersteller über die mittlerweile schlaglocharme Landstraße. Eselskarren, die vor vier Jahren noch zum Straßenbild gehörten, sind zur Ausnahme geworden. Die Motorradkarren aus chinesischer Herstellung haben sie verdrängt.

Polizei und Militär kontrollieren die Reisenden häufiger. Vorzugsweise an den Mautstellen aber natürlich auch an den Grenzstationen wie zum Beispiel in Niangoloko kurz vor der ivorischen Grenze müssen die Fahrgäste die Busse verlassen und, im Gänsemarsch an den Bewaffneten vorbei defilierend, ihre Ausweispapiere vorzeigen. Daneben kontrollieren die meist jungen Soldaten und Polizisten ernst und bestimmt auch Zweirad- und Autofahrer. Unmut macht sich bei den Reisenden nicht bemerkbar, es scheint ein Einverständnis zu geben, dass die Kontrollen im Kampf gegen den Terrorismus notwendig sind.

Vor und hinter den Kontrollpunkten umschwirren wie immer die fliegenden Händlerinnen mit ihren Waren die Fahrzeuge. Sie bieten frisches Obst, Getränke und natürlich Süß- und Salzkram an - Sesamcracker, Bananen- und Mango-Chips, gepresstes Fruchtfleisch des Affenbrotbaums. Die einzige Sorge, die die Frauen umzutreiben scheint, ist Kunden zu finden.

Vor vier Jahren war das nicht zu erwarten. 40% des Landes, so berichteten damals französische Medien, seien nicht mehr unter Kontrolle der Regierung. Terroristische Überfälle, die häufiger zu einem Blutbad ausarteten, ereigneten sich quasi im Wochentakt. Ziele waren Polizeistationen und Militärcamps um Waffen und Material zu beschaffen, Goldminen der Schürfgesellschaften um an Geld zu kommen und Hilfskonvois um Nahrungsmittel zu rauben. Die Welle des Terrorismus sorgte für ein bis zwei Millionen Binnenflüchtlinge und forderte zehn- bis zwanzigtausend Tote. 2022 wurde die demokratisch gewählte Regierung durch das Militär gestürzt. Ein halbes Jahr später wurde der Putschist Damiba von einer Gruppe opponierender Militärs unter dem Hauptmann Traoré vertrieben.

Wenn heute in den Unterhaltungen die Sicherheitslage zur Sprache kommt, hängen die Reaktionen davon ab, wo man sich befindet. In Ouagadougou ernten Bedenken gegen eine Fahrt nach Bobo-Dioulasso höchstens Kopfschütteln, und jeder kennt irgendwen, der vor Kurzem auf der Strecke unterwegs war. In Bobo-Dioulasso versucht man sich zu erinnern, wo es zuletzt einen Zwischenfall gegeben hat: »Irgendwo im Norden?« Und in Banfora heißt es, selbst die Grenzgebiete könne man wieder besuchen, es sei alles ruhig.

Die positive Entwicklung schreiben die meisten Burkinabè ihrem jungen Staatschef, dem 36-jährigen Hauptmann Ibrahim Traoré zu. Dabei beziehen sich die Sympathie-Bekundungen in der Regel auf zwei Faktoren. Zum einen habe es Traoré geschafft, das Militär schlagkräftig zu machen und die terroristischen Übergriffe einzudämmen. Zum anderen bezieht sich der Hauptmann auf die Ideen eines anderen Hauptmanns, auf Thomas Sankara, der von 1983 bis zu seiner Ermordung 1987 als Präsident fungierte. Sankara wollte das Land aus der Abhängigkeit von Frankreich lösen und die Bevölkerung in den Stand versetzen, sich durch Produkte aus eigener Herstellung zu ernähren.

Die Begeisterung für Sankara und seine Ideen tauchten wieder auf, nachdem die Burkinabè den langjährigen Diktator Blaise Compaoré 2014 aus dem Land gejagt hatten. Die Geschichten von Sankara als Mann des Volkes, der freiweillig sein Gehalt beschränkt und als Präsident im Kleinwagen, einem R5, unterwegs war, um damit ein Beispiel gegen Verschwendung zu geben, machten wieder die Runde. Sankara hatte seine Revolution noch als sozialistisch verstanden, davon ist in Burkina Faso heute wenig zu hören - die Heilsbotschaft des 19. Jahrhunderts hat ausgedient.

Um so lebendiger sind dagegen die Ideen, das Land unabhängiger von Importen zu machen und den Bedarf vermehrt aus eigener Produktion zu stillen. Eine Kolonie trifft keine Entscheidungen, was sie herstellt. Die Kolonialmacht legt fest, was sie braucht und bestimmt damit die Ausrichtung der Wirtschaft: Die Küstenländer Benin, Togo, Côte d'Ivoire produzierten Kakao, Kautschuk, exotische Früchte, und für die Länder des Sahel wie Burkina Faso, das frühere Obervolta, blieb Baumwolle über. Um so größer ist die Begeisterung jetzt, wenn neue Projekte auf einmal großflächig Kakao oder Ananas anbauen: »Hat man so etwas schon gehört - Ananas in Burkina?« Andere probieren sich an Erdbeeren oder Weintrauben, gerne auch Bio. An Ideen und Enthusiasmus herrscht kein Mangel.

Eine andere Leidenschaft zeigt sich in fast jedem Dorf entlang der N1: Die »rond-points de AES«, die häufig nur durch aufeinandergestapelte Autoreifen angedeuteten Verkehrskreisel, sind mit den Fahnen von Mali, Niger und Burkina Faso geschmückt, den Staaten der AES (Alliance des États du Sahel). Fast immer ist auch das weiß, blau, rot der russischen Fahne dabei. Einerseits gelten die Russen als unkomplizierte Partner, bei denen das Land ohne Bevormundung Waffen und Söldner kaufen kann. Andererseits gilt wohl auch die simple Logik, der Feind meines Feindes ist mein Freund. Und als Feind Nummer eins gilt Frankreich.

Die rond-points sollen als Treffpunkte dienen für diejenigen, die den Präsidenten schützen und das Land vor einem erneuten, diesmal von außen gesteuerten Putsch bewahren wollen. Die Beteuerungen, man werde zur Not auch ohne Waffe für die Selbstbestimmung kämpfen, sind motiviert durch die Erinnerung an die Ermordung Sankaras. Nach dem kurzen Intermezzo unter Sankara steuerte der Diktator Blaise Compaoré Burkina Faso wieder zurück in die neokoloniale Starre mit Frankreich als zentralem Bezugspunkt. Compoarés Mittäter bei der Ermordung Sankaras, Gilbert Diendéré, langjähriger General von Compaorés Präsidentengarde, ernannten die Franzosen 2008 zum Mitglied ihrer Ehrenlegion.

Das neokoloniale System sieht die Ex-Kolonien als Bezugsquelle für günstige Rohstoffe und als Exportmarkt für die heimischen Hersteller. In den Supermärkten in Ouagadougou zeigt sich das Missverhältnis in eklatanter Weise. Das Kaffeeregal bringt Nescafé auf Augenhöhe unter, ergänzt durch Billigprodukte französischer Ketten. Einheimische oder zumindest afrikanische Marken finden sich selten und wenn, muss man sie unten im Regal suchen. Das gleiche Bild bietet sich in allen anderen Abteilungen, ob es nun um Süßwaren, um Milch oder um Toilettenartikel geht. Nur das Angebot an Obst, Gemüse und Fleisch ist lokal verankert und schon an der Käsetheke lacht wieder die Kuh.

Aber es gibt auch andere Möglichkeiten, im Umgang mit den Ex-Kolonien zu Geld zu kommen. Der französische Mischkonzern Bolloré betrieb über die Tochterfirma Sitarail seit 1995 die Eisenbahnstrecke von Abidjan nach Ouagadougou. Ein vergleichsweise sicheres Geschäft, da Burkina Faso als Binnenland auf die Häfen der Küste angewiesen ist. Dafür sollte Sitarail eigentlich Nutzungsrechte und Abgaben zahlen. Nach den Berechnungen von Nestorine Sangaré, einer ehemaligen Ministerin, schuldet Bolloré statt dessen Burkina Faso knapp neun Millionen Euro, weil die Nutzungsrechte nie und die Abgaben nicht vollständig bezahlt wurden.

Möglich werden solche einseitigen Geschäfte, weil die politische Kaste unter Blaise Compaoré als »valets locaux« (lokale Lakaien oder lokale Statthalter) handelte. Verträge handelten die gefälligen Statthaltern gegen private Zuwendungen zum Nachteil des Landes aus und, wenn es dem externen Vertragspartner passte, wurden die Verträge auch nicht durchgesetzt. Unterentwicklung wird auf diese Weise hergestellt.

Wenn sich abhängige Märkte dann plötzlich abkapseln hat das disruptive Folgen auch für die Kolonialmacht. Frankreich reagiert derzeit regelrecht nervös, weil das Land seine Importe an Uran erneut umstellen musste. Die Franzosen decken ihren Strombedarf zu zwei Dritteln aus Atomenergie, und brauchen regelmäßige Uranlieferungen. Russland fällt wegen der Sanktionen aus. Und Niger, dass bislang wunderbar billig und teilweise auch umsonst (weil man die Rechnung einfach nicht bezahlt hat) Uran lieferte, stellt sich auf einmal quer.

Und so liegen die Burkinabè mit ihren Befürchtungen, die Entwicklung ihres Landes könnte erneut zurück gedreht werden, wohl nicht falsch. In einem Video-Interview mit »Le Figaro« im April 2024 unterstrich François Lecointre, Generalstabschef der französischen Armee von 2017 bis 2021, die Ansprüche der Hegemonialmacht: Das Mittelmeer und Afrika sei das Schicksal (»le destin«) Europas und es sei notwendig sich auch militärisch zu engagieren. Zur Begründung skizzierte Lecointre die apokalyptischen Zustände in Afrika: Der ganze Kontinent versinke in der Zerstörung staatlicher Strukturen und im Chaos von vielen Bürgerkriegen in immer mehr Ländern. Hilfe für die großen Probleme Afrikas komme nicht von Russland oder aus China.[1] Das Interview des Generals und Großkanzlers der Ehrenlegion erwies sich als eine Arschbombe im Fettnapf: In Westafrika loderten die Äußerungen wie ein Lauffeuer durch die sozialen Netzwerke - Frankreich wolle Afrika rekolonisieren.

Das Verhältnis zur Kolonialmacht ist komplett vergiftet. Wenn Emmanuel Macron, wie zuletzt im Januar, beklagt, die afrikanischen Staaten seien undankbar und zeigten sich nicht erkenntlich für die Militärhilfe, die Frankreich gegen die Terroristen geleistet habe[2], kommt schon die zweite Hälfte des Satzes nicht mehr an. Wofür man eigentlich dankbar sein solle? Für Sklaverei? Für Ausbeutung? Für Korruption?

Tatsächlich kann man auch die Frage stellen, ob die militärischen Operationen der Franzosen wirklich Dankbarkeit verdienen, denn solange sie dauerten, verschlimmerte sich die Situation eher täglich. Erst seit die vor allem betroffenen Länder, Mali, Niger und Burkina Faso als AES zusammen arbeiten und das Militär die Terroristen auch jenseits des eigenen Staatsgebiets verfolgen kann, hat sich die Situation gebessert. Und nach dem Bruch mit Frankreich scheint das Militär auch besser ausgestattet zu sein. Zumindest verfügt mittlerweile jeder Soldat über eine Waffe. Und gegen die terroristisch agierenden Banden kommen vermehrt Drohnen zur Überwachung und Aufklärung zum Einsatz.

Etwa 70% des Landes seien wieder unter Kontrolle der Regierung, heißt es von staatlicher Seite. Probleme scheint es vor allem im Nordosten in der Region von Dori zu geben und im Süden, wo die Grenzen zu Benin, Togo und Ghana es den Terroristen erlauben, sich nach Überfällen der Verfolgung zu entziehen.

Im Januar präsentierten die AES einen neuen Pass, der für die drei Staaten gültig sein soll. Außerdem traten die Länder aus der westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft CEDEAO aus. Damit dürfte auch der an den Euro gekoppelte CFA Franc zur Debatte stehen, das gemeinsame Zahlungsmittel der frankophonen Länder (außer Guinea) unter den CEDEAO-Staaten. Der Umbruch geht also weiter.

Der Einfluss Frankreichs wird zunächst auf militärischer Ebene eingeschränkt. Nachdem die Franzosen Mali, Niger und Burkina Faso verlassen mussten. stehen jetzt die Rückzüge französischer Streitkräfte aus dem Senegal, Tschad und Côte d'Ivoire an. Wie die Länder das Verhältnis zu Frankreich in Zukunft gestalten, muss sich noch zeigen. Zumindest Alassane Ouattara, der Präsident von Côte d'Ivoire, pflegt nach wie vor gute Beziehungen zum französischen Staat.

  • [1] https://www.youtube.com/watch?v=tBe6GelWkxE
  • [2] https://www.youtube.com/watch?v=iAVcP-pEMW0