Die Stadt verharrt und die Uhr rückt in Zeitlupe vor: In den Cafés warten leere Tische auf Gäste, die Kellner verlagern das Gewicht von einem Bein auf's andere, schauen die Gasse hinauf, schauen sie hinunter und streichen sich das Kinn, denn ihre wenigen Kunden geben ihnen nichts zu tun - die blättern nur in der Zeitung, sehen auf, weil das Geflatter einer Taube sie irritiert, und wundern sich, dass der Zeiger auf der Kirchturmuhr so viel Zeit braucht.
Am frühen Nachmittag gleicht die Altstadt Bratislavas einem Wartesaal; ein Wartesaal der zwar mit viel Liebe zum Detail restauriert wurde, der aber nirgends andeutet, was hier zu erwarten wäre.
Über den Altstadtring jagt ein Krankenwagen und sucht dringend einen Vorwand, die Sirene aufheulen zu lassen, aber niemand ist da, der ihm einen Anlass liefern könnte. Selbst die alte Dame, die gestützt auf ihren Spazierstock bedächtig die Haltestelle der Straßenbahn erreichen wollte, dann immer schneller wurde und schließlich resolut den Stock unter den Arm klemmte, hat wohlbehalten den Ring überquert und die Bahn erreicht.
Hinter dem Ring beginnt die Geschäftsstraße Obchodná, Hier ziehen die bunten Auslagen der Schaufenster, die in der Altstadt mit den sich aneinanderreihenden Restaurants und Cafés fehlen, Kunden an. Doch auch in der Obchodná geht es nicht eben wuselig zu und es sind vor allem die vorbei rumpelnden Straßenbahnen, auf denen der Slogan »Bratislava – Little Big City« prangt, die das Bild mit Aus- und Zusteigenden beleben. Altbauten wechseln mit Kombinationen aus Kästchen und Klötzchen und die meisten der Häuser zeigen den seltsamen Kontrast aus Glasfassaden im Parterre und bröckelndem Putz ab dem ersten Stock.
Auf dem Weg zum Hrad, der Burg oberhalb von Bratislava, macht die Stadt deutlich, wie wichtig ihr die touristischen Attraktionen sind: Die Häuser sind frisch gestrichen, die Straße wird erneuert. Vielleicht sind auch nicht nur die Touristen gemeint, sondern die hiesigen Politiker, denn oben auf dem Hügel hat auch das Slowakische Parlament seinen Sitz.
Auf der Terrasse vor dem Parlament eröffnet sich die Aussicht nach Österreich hinein, aber vor allem auf den westlichen Teil der Stadt, jenseits der Donau, wo sich ein Meer von Plattenbauten erstreckt. Und im Süden weit hinter den Wellenkämmen der Hochhäuser qualmen die Schlote des Industriereviers.
Im Westteil Bratislavas steht die größte Siedlung ihrer Art in Mitteleuropa. Sie zeigt, wie die verwandten Entwürfe der Gropiusstadt, von Köln-Chorweiler oder den Pariser Banlieues die Verführungskraft der Vorstellung einer Stadt der Zukunft, die das Zweckmäßige ins Zentrum stellt. Günstige Wohnungen für viele Menschen mit dem Anschluss an die Schnellstraße gleich vor der Wohnungstür, um so die traditionellen Zentren für Arbeiten und Flanieren in das zweckorientierte Leben einzubeziehen. In Bratislava scheinen die sozialistischen Stadtplaner mit der rigiden Trennung von Wohnen, Arbeiten und Leben der Stadt ein schweres Erbe hinterlassen zu haben.
Vor der Burg reckt ein wilder Reiter sein Schwert in den Himmel, der Sockel nennt ihn Svatopluk. Im neunten Jahrhundert, als es 70 Jahre lang ein Großmähren gab, war er der letzte Alleinherrscher über das Gebiet, in dem heute auch die Slowakei liegt. Nachdem das Land bis zum Ende des Ersten Weltkriegs über 800 Jahre lang zum Königreich Ungarn gehörte, war es offenbar schwierig, eine Art Nationalhelden ausfindig zu machen. Doch dem Nationalstolz tut das keinen Abbruch, das zeigt auch die mächtige Slowakische Flagge, die über dem Burgtor weht.
Mit dem Schließen der Büros erwacht die Stadt, Besorgungen sind zu machen, Freunde zu treffen, das Kind will ein Eis. In der Altstadt haben sich mittlerweile die Touristen eingefunden und stehen in Trauben vor den Lokalen, um die Speisekarten zu studieren, und zu beratschlagen. An der Uferpromenade längs der Donau geht es gelassener zu, die Jogger verschaffen sich Auslauf, kleinste Vierbeiner werden Gassi geführt, nur die Radfahrer jagen an den Fußgängern vorbei, als seien sie Slalomstangen.
Eine Bank neben der anderen lädt zum Verweilen ein, aber sie enttäuschen die Erwartung, auf's Wasser sehen zu können. Denn im Sitzen versperrt die Flutschutzmauer die Sicht und so wirkt das Ensemble aus Bänken und Mauer fast wie ein Schildbürgerstreich. Aber mit der Mauer vor Augen lässt sich immerhin »An der schönen blauen Donau« pfeifen, ohne sich die Stimmung durch die Mischung aus grau, grün und einer deftigen Beigabe schwefelgelb trüben zu lassen, die dahinter vorbeiströmt.
Am späten Abend hallen Stimmen vom Balkon des Hostels über die ausgestorbenen Straßen der Innenstadt. Reisetipps werden ausgetauscht (»Albanien, jeder warnt dich vor Albanien, aber ich bin dort nach kurzer Zeit nur noch per Anhalter gefahren, weil jeder sofort anhält und dich mitnimmt. Es waren mit die freundlichsten Menschen, die mir je begegnet sind.«), die Fußball-Weltmeisterschaft wird gestreift, die Machos äußern lebhaft ihre Bewunderung für die Kellnerin und immer wieder wandert ein irritierter Blick über die leeren Straßen: Wo sind sie?
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