Mit Schienenbussen von Szeged in Südungarn nach Subotica in Nordserbien. Bei eineinhalb Stunden Fahrzeit für 50km dehnt sich die Zeit.
Auf dem hintersten Gleis des Bahnhofs in Szeged tuckerte der Schienenbus im Leerlauf vor sich hin, und mehr und mehr Fahrgäste stiegen zu, bis zumindest jede Bank besetzt war. Dann ertönte mit einem Mal ein Pfiff, kurz und stumpf, und während der Wagen völlig unzeremoniös anrollte, klappten die Türen zu. Beim Queren der Weichen aus dem Bahnhof heraus stieg der Bus jedesmal hoch, um dann weich federnd in die Waagerechte zurück zu sacken. (Unleserliche Notizen)
In Röszke wartete ein silbern angemalter Schienenbus auf dem Gleis nebenan, der uns nach Subotica bringen sollte. Hatte der ungarische Bus dem Lokführer ein eigenes Kabuff eingeräumt, so saß der Fahrer im serbischen Gegenstück vorne in der Mitte, so dass ihm die Fahrgäste über die Schulter hätten schauen können (was niemand machte). Gleichzeitig konnte der Fahrer seine Gäste im Rückspiegel begutachten (was er auch tat).
Ein Grenzer sammelte unsere Pässe ein, nur meinen, obwohl genauso rot wie die anderen, wollte er nach kurzer Musterung nicht haben. Weil es sich aber für einen Grenzer so gehört, fragte er, wo ich hin wollte, und ob ich etwas Besonderes im Gepäck hätte. Während er noch vor mir stand in seinem leicht zerschlissenen blauen Pullover mit einem abgewetzten Abzeichen auf der Brust und die leeren Seiten des jungfräulichen Papiers nach Stempeln durchblätterte, fielen mir die grün schimmernden Augen, der Rothaarigen schräg vor mir auf, die über ihre Schulter hinweg den Rücken des Grenzers musterte. Sie schien keinen Ausweis vorzeigen zu müssen, und ich starrte, während ich meinen Pass wieder verstaute, mir selbst missfallend, noch etwas länger auf das Halbprofil mit der olivfarbenen Haut und den Spuren eines Ausschlags auf der Wange.
Zum ersten Mal konnte ich während einer Zugfahrt nach vorne hinaus blicken. Allerdings versah die unregelmäßig geschliffene Frontscheibe den vor uns liegenden Schienenstrang mit Dellen und Krümmungen, und der Bus schlingerte während der Fahrt in einer Weise, als folge er dem Weg, wie ihn die Scheibe zeichnete. Bahndamm und Gleisbett waren vollkommen zugewachsen, als sei das Gleis lange stillgelegt und der Natur überlassen. Und ein ums andere Mal scheuchte der Bus Fischreiher aus den Tümpeln auf, an denen er gemächlich vorbei ruckelte. Der Fahrer schenkte der Strecke keine Beachtung, statt dessen ließ er den Bus selbst den Weg suchen und widmete sich, ohne dabei viele Worte zu machen, ganz dem Gespräch mit seinem Kollegen.
Dann lag, durch die Frontscheibe war sie schon einige Zeit zu sehen gewesen, eine Betonplatte neben den Gleisen. Der Fahrer drückte und zog an seinen Hebeln, bis wir mit gedämpftem Quietschen neben einem Haus mit einer Uhr, leicht vor und zurück schwankend, zum Stehen kamen. Die Betonplatte stellte den Bahnsteig dar und machte so aus dem Haus einen Bahnhof, an dem unter dem Giebel der Name der Station angeschlagen war: »Horgoš - Хоргош«. Über der geschlossenen Doppeltür des Bahnhofs wehte eine serbische Flagge, größer noch als die Tür selbst.
Und wieder sammelte ein Grenzer unsere Pässe ein, in einem blauen Hemd, geschmückt mit dem serbischen Wappen und einem Winkel mehr auf den Epauletten als sein ungarischer Kollege. Mit der ganzen Hand voller Ausweise zog er sich zurück und ließ uns im Bus sitzen: den Einarmigen neben mir, meinen Banknachbarn, die Familie, die Rothaarige, eine junge Frau in der Bank vor ihr, die sich mit Sonnenbrille und Ohrhörern abgeschirmt hatte und einige Leute im hinteren Teil.
Auch dieses Mal schien der Grenzbeamte die Rote ausgespart zu haben, ohne ihr besondere Aufmerksamkeit zu schenken oder ein Einvernehmen anzudeuten. Und ich begann, Mutmaßungen anzustellen, welche seltsame Existenz es erforderlich machen könnte, die Grenze so regelmäßig zu überqueren, dass sie bekannt genug war, um nicht wahrgenommen zu werden. Den Kopf zurücklehnend, ließ sie die Haare nach hinten fallen und raffte sie mit beiden Händen im Nacken zusammen; unter dem ins orangene spielenden Schopf zeigte sich der dunkle Haaransatz. Sie rieb sich den Nacken, zupfte die Träger ihres Hemdes zurecht, setzte sich, etwas verloren auf der breiten Sitzbank, schräg zur Fahrtrichtung, und wischte mit einer kurzen Bewegung ihrer Finger über die Schulter die stummen, von hinten auf sie eindrängenden Fragen beiseite.
Entlang der Gleise, die von der Station wegführten, standen Laternen, die einen Feldweg oder ein Abstellgleis beleuchten sollten. Unter den Laternen wand sich ein Trampelpfad entlang, und ein Fahrradfahrer folgte den Windungen, unwillkürlich den Eindruck erweckend, er wäre betrunken, um so mehr, als ihm der Schliff der Scheibe zackige Bewegungen andichtete.
Dann kehrte endlich der Mann von der Passkontrolle zurück und verteilte wortlos die Papiere, so wie er sie eingesammelt hatte. Nur mich sprach er an: »Patrick! Sag mir, wo du jetzt hinfährst.« An Novi Sad hatte er nichts auszusetzen und mit einem belustigten Zug um seine Augen gab er mir den Pass zurück.
Als wir Horgoš verließen, straffte sich der Kollege des Fahrers, salutierte ihm ironisch, und schritt ganz offiziell die Reihen der Sitzbänke ab, um die Fahrkarten zu signieren. Mit vorgeschobenem Kinn forderte er sie ein, überflog die Angaben, kritzelte, leicht schwankend im rumpelnden Bus, sein Kürzel auf die Rückseite, und reichte sie mit einem Nicken, das von seiner mächtigen Nase bestimmt war, zurück. Jedesmal wenn er sich vorbeugte, zog ein an seiner Hemdtasche baumelndes Plastikschildchen die Aufmerksamkeit auf sich; es wies ihn als »Kondukter« aus. Mit gedämpfter Stimme sprach die Rote auf ihn ein, die Nase sprang hervor, und dann wandte er sich wortlos mit vorgerecktem Kinn der Familie zu.
Endlich schien ich mit meiner Verwunderung über die Rote nicht mehr allein zu sein, Die Beschwörungsformel, mit der sie den Kondukter abgewehrt hatte, veranlasste auch meinem Banknachbarn, die grünen Augen und die ins orangene spielenden Haare genauer zu betrachten. Ohne Scham reckte er den Hals, um zumindest ihr Profil fixieren zu können. Er hatte die Sonnenbrille auf die Stoppeln seines rasierten Schädels geschoben, seine Stirn floh, sein Kinn floh, doch die leicht nach oben weisende Nase versäumte es, das Gesicht nach einer Pfeilspitze aussehen zu lassen. Unbefriedigt von seiner Musterung sah er sich im Bus um, ob jemand seine Verwunderung teilte und einen peinigenden Moment lang tauschten wir unser Befremden aus.
Der Bus trödelte, als wolle der Fahrer die Maschine nicht aufwecken und sie lieber im Halbschlaf ihre Arbeit verrichten lassen, an Wiesen, Brachflächen, Äckern vorbei. Höfe lagen, baumumstanden wie eine Warft, mitten in ihrer Flut von Grün. Auf den kleineren Feldern jäteten hin und wieder Leute mit abgenutztem Werkzeug Unkraut.
Schon gute fünf Minuten lang war vor uns eine Schneise zu sehen, über die eine Brücke führte, doch der Bus würde noch weitere fünf Minuten brauchen, um die Landmarke zu erreichen, und so verwandelte sich die Strecke von einem Augenblick zum anderen in einen Ziehfaden der Zeit. Um der langen Weile zu entgehen, meditierte mein Banknachbar über seine abgeschabte Sporttasche gebeugt und seine Sonnenbrille kroch im Takt des Geruckels über die Stoppeln. Neben mir öffnete der einarmige Herr mit den kurzen weißen Haaren seine zweite Dose Bier. Die Familie schräg vor mir fiel in Schlaf, nachdem der kleine Sohn, angelehnt an seine Mutter, es vorgemacht hatte. Die Rote beschränkte sich darauf, aus dem Fenster zu sehen. Als plötzlich ein Mann von hinten nach vorne kam, schoss mir die Frage durch den Kopf, was es für einen Sinn haben könnte, einen Schienenbus zu entführen, aber dann schloss sich der Herr doch nur auf der Toilette ein.
Hinter uns verebbte ein Gespräch und der Kondukter kehrte zurück. Er baute sich neben der Rötlichen auf, zog einen Block aus seiner Gesäßtasche, tupfte seinen Kugelschreiber auf die Zunge und füllte gewissenhaft verschiedene Felder auf dem Block aus. Als er seine Einträge geprüft hatte, riss er den Zettel ab, reichte ihn mit einem Rucken seines Kinns der Rotgefärbten und brach so den Bann. Fügsam zog sie ihre Handtasche heran, legte den Kopf schräg, strich mit der Linken die Haare aus dem Gesicht hinters Ohr, kramte ihr Portemonnaie hervor und löste ihr Ticket nach.
In Palić stoppte der Bus erneut und die Rotgefärbte kletterte, ohne sich umzusehen, aus dem Bus. Hier hatte eine Bahnhofsvorsteherin die Hosen an und das Käppi schräg auf den ungebändigten schwarzen Haaren sitzen. Ihr Anblick erfreute den Lokführer, der sie mit einem breiten Grinsen begrüßte. Sie tauschten ein paar Zettel aus und mit einem Gruß ihrer Kelle schickte sie uns weiter. Als habe der Bus eine beschwerliche Last zurück gelassen, schoss er danach mit doppeltem Tempo voran, und sobald ein Bahnübergang in Sichtweite kam, spielte der Fahrer mit dem Knopf für das schrill tönende Horn. Mit einem Mal fehlten auch die Gräser zwischen den Gleisen, dafür schien die Strecke vor uns nur noch aus Dellen zu bestehen.
In Subotica kam der Bus mit fünf Minuten Verspätung an, als der Zug nach Novi Sad gerade einfuhr.
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