Es herrscht Mückenwetter und die Schwalben segeln so tief über das Korn, als sollten die Ähren ihnen den Bauch kitzeln. Der dauernd drohende Regen sei es, der die Besucher heute davon abhalte, den Landschaftsgarten »Wörlitzer Anlagen« (noch ein Weltkulturerbe) aufzusuchen, meint die Fährfrau beim Übersetzen auf die Roseninsel. Doch auch bei gutem Wetter dürften sich die Besucher kaum ins Gehege kommen, dazu ist das Areal mit vielleicht sechs Quadratkilometern zu weitläufig.
Landschaftsgärten entstammen einer Zeit, als diejenigen, die es sich leisten konnten, großzügig aus dem Vollen schöpften um einer besonderen Mode zu frönen: einer heute recht speziell scheinenden Art von Naturbegeisterung. Die normale Umgebung entsprach meist nicht ganz den Wünschen nach Idylle, amönen Orten und erhabenen Perspektiven, und vor allem erwies sich die Natur wohl als widerspenstig und wenig gangbar (Mit einem Reifrock durchs Unterholz? Moosflecken auf der weißen Hose? Die Perücke aufgespießt im Dornengestrüpp?).
Zuerst kamen die Engländer auf die Idee, der Natur die Richtung zu weisen und sie als Parklandschaft zu domestizieren. Das ermöglichte es, wie in Fountains Abbey, mit der Kutsche zu einer Anhöhe gefahren zu werden, und angesichts einer bezaubernden Aussicht auf den Turm der verlassenen Abtei den Tee zu nehmen und sich in Mutmaßungen über die Vergänglichkeit der Welt zu ergehen. (Der Architekt hatte extra einen Kanal angelegt, um die Blickachse von der Anhöhe zum Turm von Bäumen frei zu halten, aber das stört bei der Aussicht nicht.) In Wörlitz schlug diese Vorstellung von Landschaftsgestaltung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zum ersten Mal auf dem Kontinent Wurzeln.
Die grandiosen Hinterlassenschaften könnten heute leicht den Eindruck eines gewissen Größenwahns erwecken, denn es brauchte nicht nur viel Land, viel Geld und viel billige Arbeitskraft, um Kanäle zu stechen, Wälle und Hügel aufzuschütten, Höhlen und Grotten anzulegen, Inselchen zu schaffen, Ruinen zu bauen, Statuen aufzustellen und immer wieder dem Blick Raum zu schaffen.
Doch selbst in diesem Rahmen erscheint es etwas überkandidelt, wenn der Bauherr des Wörlitzer Gartens, Fürst Leopold III. Friedrich Franz, die Gelegenheit auch nutzte, seine Reiseerinnerungen zu formen, und nicht nur ein Amphitheater anlegen, sondern dazu auch gleich einen künstlichen Vesuv aufschichten ließ (der für Feuerwerke benutzt wurde).
Natürlich steht auch ein Schloss in diesem Park (das der Bauherr bescheiden Landhaus nannte; er war aufgeklärt) nebst verschiedenen anderen Anwesen und Häuschen. Trotzdem diente die Anlage nicht dem Privatvergnügen, sondern war von Anfang an öffentlich und sollte nach dem Willen von Vater Franz (die Bezeichnung geht Dessauern heute noch über die Lippen) die Bürger belehren und zur Erziehung beitragen: Das Pantheon holte die Antike in die Gegenwart, Synagoge und Kirche erscheinen in einer Blickachse gemäß dem Credo der Relgionsfreiheit gleichberechtigt nebeneinander, und mit dem Denkmal für Rousseau wurden auch die Ideen der Aufklärung auf den Sockel gehoben.
Manche Bauten, wie das Gotische Haus, die Kettenbrücke und besonders die Multi-Zweck-Grotte »Romantische Partie« wirken mittlerweile eher bizarr. Das Gotische Haus soll erkennbar an das Mittelalter erinnern; das Schwanken der Kettenbrücke lässt sich allegorisch verstehen; und die »Romantische Partie« schließlich bietet als Gipfelnachbildung einen Aussichtspunkt und mit ihrer Höhle einen Schlupfwinkel für Eremiten. Zur »Partie« gehört ein Tunnelsystem, das dem zurückgezogen Lebenden den Zugang zu einem von Mauern eingefassten Betplatz ermöglicht und am Ende unter der rasselnden Kettenbrücke am Kanal mündet.
Die Anlagen befremden heute, nicht weil sie wie eine Pappmaché-Kreation von Disney etwas abbilden, was nie war, sondern weil sie den Eindruck erwecken, sie seien dazu gedacht, bestimmte Lebensumstände nachvollziehbar zu machen. Sie sollen die Neugier befriedigen, die wissen will, wie sich das Dasein als Eremit anfühlt, welche Gedanken spitze Bögen in den Fenstern hervorrufen und was es bedeutet, wenn der Boden unter den Füßen schwankt. Der Garten war ein intelligent gestalteter Erlebnispark. Und schon durch die immer wieder neu in Szene gesetzten Blickfänge, die das Sehen in ein Spiel verwandeln, ist er es heute noch, egal wie das Wetter ausfällt.
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