Im Zeichen des Pentagraphs

Zu einem Nachnamen, den man dauernd buchstabieren muss (gol.tz.sch), weil er als Lautmalerei ohne Bedeutung daherkommt, gehört die Verwunderung, was es damit auf sich hat. Ein Besuch in Wurzen könnte Aufschluss geben,

Für einen Westdeutschen lag die DDR fernab der Reiserouten, und so stellten sich Beobachtungen, die eine Verwandtschaft zum Gezischel der Konsonanten nahe legten, erst mit sich zufällig ergebenden Besuchen im Osten ein: Dort fertigten die Motorenwerke in Zschopau Motorräder der Marke MZ und in Thüringen führt die Bahnstrecke von Leipzig nach Plauen über die Göltzschtalbrücke. Überhaupt zeigt sich im Südosten Deutschlands eine Häufung des Lauts, je näher man mit der Nase an die Karte kommt.

Die Nähe zur tschechischen Grenze legt die Vermutung nahe, einige der in Tschechien häufigen Akzente hätten in einer Umschreibung über die Grenze gemacht. Ganz so scheint es nicht gewesen zu sein, aber einen Zusammenhang gibt es immerhin, denn bei dem Pentagraph (mit solcherart Weihwasser besprenkeln Linguisten die Zusammenstellung aus fünf Konsonanten (tzsch), die einen Laut abbilden) handelt es sich wohl um eine Variante des slawischen »č«, das Wenden und Sorben mit nach Deutschland gebracht haben.

Doch die Mutmaßungen erklären nichts, und auch das Grimm'sche Wörterbuch mag keinen Hinweis geben. Aber wenn Herkunft und Bedeutung unklar bleiben, kann vielleicht die Familiengeschichte Aufschluss geben. Da eine Aufnahme der Mulde beim Vater in Hamburg die Erinnerung an ein schon bräunlich zerlaufenes Schwarz-Weiß-Foto weckt, das seinen Vater beim Paddeln auf der Mulde zeigt, fällt auch der Hinweis auf dessen Geburtsort: Wurzen an der Mulde.

Mühlwerke in Wurzen
Mühlwerke in Wurzen

Wurzen – ein Städtchen von 20.000 Einwohnern, eine halbe Stunde mit der Bahn von Leipzig entfernt, Geburtsort von Joachim Ringelnatz – schenkt der Mulde nicht viel Beobachtung. Der Fluss liegt abseits und wurde vor allem von den riesigen Mühlwerken genutzt, die seit über 150 Jahren am Rand der Stadt stehen.

Ehemalige Hauptpost in Wurzen
Ehemalige Hauptpost in Wurzen

Es hieß, Wurzen gehöre zu jenen Orten, in denen die Braunen verstärkt ihr Unwesen treiben, aber bei der Ankunft erfüllt sich die Erwartung nicht, Kurzgeschorene auf dem Bahnhofsvorplatz lümmeln zu sehen. Durch die ruhigen Straßen führt der Weg am verrammelten Hauptpostamt vorbei, dessen Turm nicht mehr von Ziegeln gedeckt ist und statt dessen von ausgedienten Porzellanisolatoren der ehemals über Land führenden Telefonleitungen gekrönt wird. Ziel ist das Touristen-Büro, um nachzufragen, ob es ein Stadtarchiv gibt, das Auskunft zum Familiennamen geben kann.

Das Büro findet sich in einem proper restaurierten Gebäude, das vor allem das Städtisches Museum beherbergt. Wie sich herausstellt, hat man hier ein offenes Ohr für die Erkundigung nach familiären Bindungen und ein Mitarbeiter bittet ohne Umschweife in sein behelfsmäßig wirkendes Büro.

Er lässt sich noch einmal den Namen buchstabieren und erläutert, ein Geburtsdatum helfe nicht, weil die Einwohnerbücher, die er zur Verfügung habe, die Wurzener nur alphabetisch auflisteten. Aus einer kleinen Reihe abgegriffener Bände, die neben dem Computer-Bildschirm auf seinem Schreibtisch stehen, zieht er das Buch von 1920 hervor, blättert bedächtig die Seiten um, die ihm teilweise schon entgegenfallen, der Finger fährt über das bräunlich verfärbte Papier und markiert schließlich einen Eintrag: »Max Goltzsch, Lagerleiter/Expedient, Könneritz-Platz 2«. Im Band von 1913/14 firmiert ein Heinrich Max Goltzsch noch als Handlungsgehilfe. Dagegen bestätigt der Eintrag von 1930 den zehn Jahre älteren, und 1940 vermerkt die amtliche Liste Max Goltzsch als Rentner immer noch mit der gleichen Adresse. Andere Einträge gibt es nicht.

Auf der Straße muss sich, einer Eingebung folgend, eine alte Dame, die den ersten Sonnenschein seit Tagen zu einem Spaziergang nutzt, die Frage gefallen lassen, wo der Könneritz-Platz zu finden sei. Die Erkundigung amüsiert sie, den gebe es nicht mehr, der heiße jetzt Bürgermeister-Schmidt-Platz, und sie erklärt auch gleich den Weg. Fröhlich wünscht sie einen guten Tag und schiebt ihre Gehhilfe weiter.

Da die Einträge in den Einwohnerbüchern so knapp ausfallen, und weder Frau noch Kinder erwähnen, scheint der Ansatz, die Familiengeschichte entlang der männlichen Linie zu verfolgen, auch einer Mischung aus Hemdsärmeligkeit und Faulheit geschuldet zu sein. Mehr wissen zu wollen, bedeutete mit vagen Angaben alte Akten durchzuflöhen, in der Hoffnung durch einen Zufallsfund weitere Anhaltspunkte auszugraben; aber dafür reicht die Zeit nicht.

Ehemaliger Könneritz-Platz 2 in Wurzen
Ehemaliger Könneritz-Platz 2 in Wurzen

Der ehemalige Könneritz-Platz findet sich außerhalb der Altstadt und zeigt sich so weitläufig als sei er für Jahrmärkte gedacht. Bäume grenzen ihn ein und verdecken die meisten der umstehenden Häuser. An der Stirnseite steht die Nummer zwei, ein adrett renoviertes Mietshaus, das seinen Bewohnern den Blick über den freien Platz eröffnet. Auf den Klingelschildern stehen nur unbekannte Namen. Dabei könnte es sich – ein kurzes Überschlagen der zeitlichen Abstände verdeutlicht es: Rentner in den 40ern, gestorben vermutlich in den 50ern – bei den Bewohnern könnte es sich also schon um die zweite Generation handeln. Klingeln um nachzufragen, scheint daher nicht sinnvoll zu sein. Da auch im Telefonbuch von Wurzen kein Eintrag mehr zu finden ist, bleibt nur noch der Friedhof am Ostende des Ortes für eine Spurensuche.

Wurzen Altstadt
Wurzen Altstadt

Die Stadt zeigt sich sauber und aufgeräumt. Die Straßen sind jetzt etwas belebter, denn Schüler tragen ihre Ranzen nach Hause, kicken missmutig Steine vor sich her, oder tauschen sich eifrig über die Ereignisse des Vormittags aus. Leer stehende Läden wechseln mit alteingesessenen Geschäften, während bei anderen die Mieter so schnell aufeinander folgen, dass nicht einmal Zeit zu bleiben scheint, die Beschriftung zu ändern. Während der Schriftzug über der Tür noch Bürotechnik feilbietet, wartet drinnen schon, die Klebefolie auf den Fenstern preist es an, das Tätowier-Studio »House of Pain« auf Kundschaft – was unwillkürlich die Frage aufwirft, ob sie wohl die Nadeldrucker weiterhin benutzen. Abseits der betulich wirkenden Altstadt zeugen Mietshäuser von der stürmischen Entwicklung des Ortes, dessen Bevölkerung sich in der Folge der Industrialisierung zwischen 1875 und 1925 mehr als verdoppelte.

Am Friedhof führt die Suche zunächst ins Büro der Verwaltung, wo eine Dame gar nicht erbaut ist, außerhalb der Öffnungszeiten bei ihrer Arbeit unterbrochen zu werden. Aber sie lässt sich erweichen im Rechner nachzusehen, ob noch ein Grab der Familie dokumentiert ist. Und sie fragt, als sei das vollkommen normal: »Mit ›z‹ in der Mitte?« Dann schüttelt sie den Kopf, unter den belegten Gräbern sei nichts zu finden. Wenn es sich um ein älteres Grab handele, sei es aber möglich einen Antrag zu stellen, tröstet sie, der sei allerdings gebührenpflichtig, denn dann müsse sie im Register nachsehen und rückt, nun streng blickend, ihre Brille zurecht.

Draußen tragen die Grabsteine die einschlägigen Namen: Fritzsche, Uhlitzsch, Kretzschmar, Petzsch, Jentzsch; es steht sogar noch ein Kreuz für Max Zschetzschke, gestorben 1915. Und während der Blick über verwitterte Steine gleitet und versucht, den Efeu zu entwirren um die Inschriften zu entziffern, bringt der Wind es mit, ein Wind, der Ausdauer und den Hauch nach See vermissen lässt und das Haar aufwühlt: Es ist nur der Name, der hier zu Hause ist.