Notizen aus Sofia

Morgens um neun, wenn die Stadt in Geschäftigkeit verfallen sollte, fällt vor allem eines auf: Die über allem liegende Ruhe. Dabei ist weder Sonntag noch Feiertag und auch die Ohren haben nicht unter der Fahrt mit der Serbischen Eisenbahn gelitten. Niemand hupt, keiner lässt den Motor aufheulen, und selbst die Fahrgäste in der Straßenbahn bewahren vor allem Ruhe.

An der Nationalgalerie
An der Nationalgalerie

Der Eindruck des Gedämpften bleibt in den kommenden Tagen erhalten, kein Geschäft bedröhnt die Passanten mit Musik, die Restaurants sorgen allenfalls für eine Geräuschkulisse im Hintergrund, und die Gäste fügen sich in diesen Rahmen, erheben auch in großer Runde nicht die Stimmen oder lachen gar lauthals. Und am Sonntag, wenn die Straßenbahnen seltener fahren, sind es vor allem Mauersegler, die mit ihrem schrillen Pfeifen für Lärm sorgen.

Die durchgängige Zurückhaltung erschwert es, Lokale zu finden. Über die Teestube stolpert man nur, weil abends dann doch einmal die Musik einer drinnen aufspielenden Salsa-Kapelle über die Straße schallt. Aber das Ladenschild, das Laufkundschaft von der Straße herein lotsen sollte, muss man suchen. Zwar gibt es, gerade in der Innenstadt, viele Straßencafés, aber die Bewohner Sofias scheinen dem Treiben drumherum, auch wenn es nicht gerade turbulent zugeht, wenig abgewinnen zu können und ziehen sich lieber in Hinterhöfe zurück, wo einmal mehr gedämpfte Musik läuft und die Unterhaltung keine Nebengeräusche übertönen muss. Ohne vernehmliche Kulisse und ohne augenfällige Werbung bleibt nur, die Augen bei der Suche nach Restaurants offen zu halten und immer auch um die Häuserecken zu sehen.

Dabei scheint ein Hang zum Idyll durch, denn selbst in zugewucherten Gärten, wo das allzu lange Gras schon wieder am Boden liegt und die Sträucher ineinander wachsen, hat sich jemand die Mühe gemacht und eine Ecke zum Sitzen freigeschnitten, wo auch der Rosenstock blüht.

Extreme

Die Armut treibt viele, vor allem ältere Leute an die Straßenecken, wo gebeugte Mütterchen einen Plastikbecher vor sich halten, oder Straßenmusiker meist mit Akkordeon an die Mildtätigkeit appellieren. Häufig sind auch Leute zu sehen, die methodisch die Müllcontainer durchgehen (sie wühlen nicht) auf der Suche nach Verwertbarem.

In der Nähe der zentralen U-Bahn-Station Serdika steht der in den 50er Jahren errichtete Einkaufstempel ZUM. Im Rahmen der Privatisierung wurde das Gebäude verkauft und gehört heute einem Kaufmann. Auf vier Etagen langweilen sich am Freitag vormittag das Sicherheitspersonal vor und die Verkäufer in den Läden für Kosmetik, Juwelen, Schuhe, Unterwäsche, Unterhaltungselektronik, weil sich zwar eine handvoll Schaulustiger in dem Gebäude verliert, aber kaum einer sich zum Kauf verführen lässt.

Gesundbrunnen

Das türkische Erbe lebt; die Moscchee dient nach wie vor als Gotteshaus
Das türkische Erbe lebt; die Moscchee dient nach wie vor als Gotteshaus

Hinter dem ZUM, liegt das zentrale Mineralbad Sofias, und an der Exarch-Yosif-Straße hat die Stadt einen neuen Brunnen gebaut, an dem die Bewohner Sofias laufend Wasser abfüllen. Manche bringen nur Zwei-Liter-Flaschen mit, andere telefonieren, während sie darauf warten, dass der Pegel in den Zehn-Liter-Kanistern steigt. In Sofia sprudelten schon in der Antike die Quellen und die Römer gründeten deshalb hier Serdica. Fünfzehn verschiedene Quellen sollen es im Stadtgebiet sein. Das Wasser, das hier im Zentrum um die Ecke von Moschee, Markthalle und Synagoge aus der Erde kommt, ist warm, 46° nach offiziellen Angaben, und es soll bei vielen Krankheiten helfen: Bluthochdruck, Neuralgien, Unfruchtbarkeit, Rheumatismus, Nierensteinen, Podagra sowie allen möglichen anderen Zipperlein. Kalt schmeckt es zumindest nicht schlecht.

Kinderarbeit

In der Kirche am Park an der Graf-Ignatiev-Straße nähert sich am Samstag mittag der Gottesdienst dem Ende. Erste Kirchgänger kommen heraus und lassen sich auf den Bänken unter den Bäumen rund um das kleine Stück Rasen mit dem Blumenbeet in der Mitte nieder. Vom oberen Ende, wo ein Kiosk die umstehenden Tische mit Kaffee versorgt, nähert sich ein untersetzter Roma mit einer Zehnjährigen. Er setzt sich auf eine der freien Bänke und beginnt, der Kleinen etwas einzuschärfen.

Wenig später marschiert die niedliche Kleine, mit ihren widerspenstig abstehenden, staubbraunen Haaren in ihrem ehemals orangefarbenen, jetzt trüben Jacke vorbei, immer wieder ausspuckend und dazwischen ein Gejammer übend. Sie lässt sich am Kirchenportal nieder und stellt einen Plastikbecher vor sich. Ihr dicklicher Begleiter beobachtet sie noch eine Weile, glättet dann seine Bermuda-Shorts, zieht das schmuddelige Unterhemd zurecht und verschwindet zwischen den Marktständen an der Straße. Auf der nächsten Bank füttert eine Mutter ihren begeisterten Säugling mit Eis, etwas weiter werfen zwei Herren den Tauben Krümel ihrer Teigtaschen zu.

Nach und nach strömen gut situierte Herrschaften aus der Kirche und bilden Grüppchen vor dem Portal, aber kaum jemand beugt sich zu der Kleinen herunter, um etwas in ihren Becher zu legen. Ein Mädchen in türkisfarbenem Kleid hüpft unterdessen über ihr Springseil um die Gruppen der Erwachsenen herum und das zurückgesteckte Haar schlägt bei jedem Sprung Wellen über ihren Schultern.

Nachdem sich die Kirche geleert hat, steht die Kleine auf und findet ihren Begleiter, der nicht zufrieden zu sein scheint. Kurz darauf schlüpft sie zwischen den Gruppen der Kirchgänger hindurch und hält den Leuten ihren Becher vor den Bauch. Geld scheint ihr trotzdem niemand geben zu wollen, aber ein älterer Herr drückt ihr zwei Pakete in die Hand, die aussehen, als ob sie Maiskolben enthielten.

Nach kurzer Überlegung geht sie beschwingt auf einen Betonkübel zu, einen Mülleimer, aus dem sie einen Plastikbeutel herausholt, der zumindest für eines der Pakete reicht. Systematisch geht sie weitere Mülleimer ab und steuert bei ihrer Runde auch auf einen Poller zu, schaut ihn an, prüft ihn mit der Hand und zieht unbeschwert weiter zum nächsten Kübel.