Im täglichen Einerlei zwischen Supermarkt und Gemüseladen erschaudert kaum jemand beim Blick auf die Fassaden der Straßenschlucht. Doch Coruña macht es nicht ganz so leicht, die Nachbarschaft im Gewohnten verschwinden zu lassen, und plötzlich gibt es ein neues Wort zu lernen: Féismo.
Das Wort fasst eine Reihe von Auffälligkeiten zusammen, die viele Bauten in Galicien kennzeichnen und die einer Haltung entspringen, der ästhetische Erwägungen vollkommen schnurz sind. Féismo leitet sich vom spanischen »feo« für hässlich ab, ins Deutsche ließe es sich wohl am ehesten mit einer Neuschöpfung wie »Degoutismus« (von degoutant, also abscheulich) übersetzen.
Der Féismo akzeptiert das Geschluderte, das Unfertige, das Zusammengehauene, er stört sich nicht an unverputzten Wänden, er kombiniert die Baustoffe wie sie gerade kommen – unten Sichtbeton, erster Stock gekachelt, zweiter Stock aus Holz – und letztlich muss der Bau auch nie abgeschlossen werden. Zudem nimmt der Féismo nicht nur keine Rücksicht auf die Umgebung eines Bauwerks, sondern verschwendet auch keinen Gedanken daran, die Nachbarschaft womöglich zu beeinträchtigen. So stellt der Féismo den groben Klotz neben die Jugendstilfassade, zieht den Zweckbau für einen Supermarkt direkt neben der Kirche hoch, und trennt auch nicht zwischen Wohn- und Gewerbegebiet.
Der Torre de Hercón, 1975 fertig gestellt, kann vielleicht als herausragendes Beispiel für eine Verbindung des Brutalismus-Baustils (Sichtbeton in geometrischen Formen) und Féismo gelten. Noch in den 60er Jahren bestand das Viertel, in dem der Turm heute knapp 120m aufragt, aus bürgerlichem Prunk und traditionellen Bauten. Übrig geblieben ist auf dieser Ecke kaum mehr als ein klassizistischer Bau, in dem das höchste Gericht Galiziens untergebracht ist, der Rest besteht aus Neubauten der 60er und 70er Jahre. Eine amerikanische Architekturzeitschrift soll diesen Teil der Stadt schon als besonders scheussliches Beispiel für missratene Urbanisierung herausgestellt haben.
Begonnen hat der Féismo mit der in den 60er Jahren in Galicien einsetzenden Industrialisierung. Teilweise verdrängten Spekulation und Boom die alte Bebauung wie in Coruña, anderswo entstanden Neubauten inmitten gewachsener Strukturen. Und oft genug setzte sich der Féismo durch. In dem Phänomen spiegelt sich das Versagen einer Politik, die entsprechende Gesetze und Vorschriften vernachlässigte, und es zeigt sich eine Verwaltung, die darauf verzichtete, Bauvorschriften durchzusetzen.
Ein weiterer Grund für den Féismo wird in den Migrationszyklen vermutet: Zwischen 2,6 und 2,8 Mio. Galicier wohnten und wohnen seit den 60er Jahren in der Region, gleichzeitig soll die Zahl der Gallegos im Ausland bei etwa drei Millionen liegen. Bei ihrer Rückkehr vernachlässigen die Migranten häufig bereits existierende Häuser und bauen lieber neu (mitunter eben sehr ausgefallen, weil die Jahre im Ausland sich ja auch gelohnt haben müssen).
Zwar gibt es eine gewisse Übereinstimmung, welche Bauten als unpassend, als fehlplatziert oder als misslungen einzustufen sind, aber beim Féismo handelt es sich auch um einen unscharfen Begriff, der nicht nur offen ist für subjektive Einschätzungen. In manchen Diskussionen taucht auch das Beharren auf der lokalen Tradition auf, die gegen moderne Architektur ins Feld geführt wird, und sich schon an einem hórreo (dem klassischen Kornspeicher in den ländlichen Gebieten) stößt, der aus Ziegelsteinen statt aus behauenem Stein gebaut ist. (Die Fotoreihe der Voz de Galicia gibt einen Begriff von der Spannweite, in der Féismo gebraucht wird.[1])
Das Problem wird seit einigen Jahren diskutiert, 2004 gab es eine erste größere Diskussionsrunde, 2007 folgte ein zweites Forum. Mittlerweile hat auch die Politik eine Art Problembewusstsein entwickelt, und zumindest verschiedene Vorschläge. etwa Subventionen für die Verschönerung von Fassaden, auf den Tisch gelegt.
Féismo ist kein auf Galicien beschränktes Phänomen; möglicherweise entspringt die Kritik ja eher einem ästhetischen Empfinden, das man sich auch anderswo wünschen würde. Denn schon eine Fahrt von Hamburg in die Lüneburger Heide kann angesichts des hemdsärmeligen Pragmatismus, dem "Hauptsache billig" alles zu gelten scheint, das Gruseln lehren. Aber Féismo findet sich auch in den Bungalow-Waben, mit denen die Türken ihre Mittelmeerküste einfassen, oder in manchem sozialistischen Erbe, das die Staaten des ehemaligen Ostblocks zu tragen haben.
Was A Coruña angeht, lässt die Kritik an misslungenen Bauten und einem angeblich verschandelten Stadtbild eines leicht übersehen: mit seiner Rücksichtslosigkeit sorgt der Féismo auch für einen entschieden städtischen Charakter. Deutsche Städte mit vergleichbarer Einwohnerzahl wie Kiel, Halle oder Augsburg wirken dagegen degoutant provinziell. Sie pflegen ein putziges Stadtbild (nun gut, Kiel vielleicht nicht), im Bestreben eine heimelige Atmosphäre zu wahren und verbannen die Moderne hinter die Fassaden der entkernten Häuser. Den Anschein des Alten zu bewahren, vermeidet wahrscheinlich Konfrontationen, aber es erweckt eben auch den Eindruck, in diesen Städten habe sich schon lange nichts getan und es werde sich auch in Zukunft nichts tun. Dem ziehe ich eine quirlige Entwicklung, die natürlich auch das Missratene mitbringt, allemal vor.
[1] Fotostrecke der Voz de Galicia zum Thema Féismo: http://www.lavozdegalicia.es/albumes/galeria.jsp?album=200512131100
Besonders empfehle ich Bild 10 in Anlehnung an »Schön ist anders«.
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