In der verstörenden Stadt

Terezín (Theresienstadt) misst 400m mal 300m; die Stadt ist so übersichtlich, dass man vom einen Ende der schnurgeraden Straßen, die Steine in der Stadtmauer auf der anderen Seite zählen kann. Sechs Straßen durchziehen den Ort in Nord-Süd-Richtung und neun verlaufen von West nach Ost.

Pražská in Terezín (unter den Nazis erst Q7, dann Berggasse)
Pražská in Terezín (unter den Nazis erst Q7, dann Berggasse)

Im Winter 1941/42 begannen die Deutschen Theresienstadt als Konzentrationslager zu nutzen, und die einheimische Bevölkerung musste den Ort verlassen. Eine der Umstellungen betraf den Stadtplan, den die Nazis zum Koordinatensystem umfunktionierten, indem sie die Straßen schlicht durchnummerierten: In der Länge L1 bis L6, in der Quere Q1 bis Q9.

Ehemaliges Gefängnis in Terezín
Ehemaliges Gefängnis in Terezín

Die nach militärischen Maßstäben gebaute Festung und Garnisonsstadt (die Österreicher wollten nach den Kriegen mit Preußen ab 1780 den Zugang nach Böhmen am Zusammenfluss von Labe und Ohře (Elbe und Eger) schützen) kam den Nazis entgegen: Die Stadtmauern verhinderten ein Entkommen, die stets rechtwinklig aufeinander zu laufenden Straßen ließen sich leicht überwachen, und ein großzügiges Gefängnis, in dem die Habsburger Monarchie Staatsfeinde untergebracht hatte, fanden sie ebenfalls vor.

In Theresienstadt, das bis 1940 3000 Bewohner hatte (wie heute auch wieder), sperrten die Nazis zeitweise über 58.000 Menschen vor allem aus Tschechien, Deutschland und Österreich ein. Das Ghetto diente als Zwischenstation für bis zu 150.000 Häftlinge, die zum großen Teil in die Vernichtungslager im Osten deportiert wurden (Treblinka, Majdanek und Auschwitz neben anderen).

Máchova in Terezín (unter den Nazis erst L3, dann Lange Straße)
Máchova in Terezín (unter den Nazis erst L3, dann Lange Straße)

Trotz der methodischen Menschenverachtung, die das Museum in Terezín in allen bitteren Einzelheiten dokumentiert, fällt es auf der Straße schwer, die Vergangenheit nachzuvollziehen. Denn der Ort selbst ist kein Museum – junge Leute gehen Hand in Hand, Kinder suchen auf dem Spielplatz Zuflucht im Schatten vor der gleißenden Sonne, und die Erwachsenen treffen sich zum Ratschen an der Ecke oder erledigen ihre Besorgungen.

Mit den Touristen haben sich die Bewohner arrangiert, und gestatten den Fremden auch den Besuch im Hinterhof, in dem die improvisierte Synagoge des Ghettos versteckt war (eher ein Betraum, denn mit zwanzig Gläubigen dürfte es bereits eng geworden sein).

Doch da zu jeder Zeit mehr Pulks fremder Besucher auf der Straße zu sehen sind als Einheimische, und nach den Besuchen der verschiedenen Ausstellungen und Anlagen die Ereignisse von vor fast 70 Jahren die Gedanken beherrschen, verschiebt sich die Wahrnehmung: Plötzlich wirken die Bewohner fehl am Platz. Sie scheinen das Bild zu stören, weil sie keine ernste Miene zur Schau tragen und weil sie nicht auf den Stadtplan sehen, der mehr Anmerkungen enthält, als es Häuserblocks gibt; statt dessen gehen sie ihrem Alltag nach.

Der verquere Eindruck lässt sich erst mit der Frage abschütteln, was es für die Bewohner bedeutet haben mag, als sie ab 1946 nach vier Jahren zurückkehrten und feststellen mussten, dass die Nazis ihre Stadt zu einem zentralen Punkt auf der Landkarte des Grauens gemacht hatten.